Lebensläufe (nach Alexander Kluge)

Nicht nur Menschen haben Lebensläufe, sondern auch
die Dinge: die Kleider, die Arbeit, die Gewohnheiten
und die Erwartungen. Für Menschen sind Lebensläufe
die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe
gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift.
Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen,
Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege.
Lebensläufe sind verknüpfte Tiere.

– Alexander Kluge, Fünftes Buch

KURZE LEBENSLÄUFE

von Ruta Dreyer

Paula ist 17, macht ihr Abitur und hat die Angewohnheit, durch verschiedene Gegenstände die Welt zu betrachten, vermutlich weil ihre Gedankenfilternicht ausreichen. Wenn sie die Welt verschwimmen lässt, hat sie Kraft zu atmen.

Frau Frauke balanciert die Kaffeebecher für ihren Chef Herrn Frauke auf den Handflächen, sie atmet durch ihren Mund, um den Geruch nicht aufzunehmen und will dabei aber nicht zu laut atmen und dann atmet sie gar nicht, kippt um und verbrennt sich am Kaffee. Herr Frauke ist sauer über die Flecken.

Sissy fliegt nach London, Paris und Uppsala, da sie hier Vorträge über die Entdeckung der zentrifugischen Funktion des Schädelknochens unter Berücksichtigung verschiedener energetischer Faktoren hält, sie sitzt immer auf Platz 14 a. Von hier aus lassen sich die Punkte an der Decke am besten zählen.

Ich verstecke meine Hände im Pullover, jemand sagt mir, dass ihn das an Kafka erinnert und sein kleines Schimmerndes Etwas, ich hole die Hände heraus und sage, Kafka hätte das nicht gewollt.

Die Kosten der Müllbeutel steigen ab dem 23. März um 0,9 %, sofern sie aus 75% Polyester von untengenannter Firma hergestellt wurden, im Auftrag von Dr. Dr. Klein, der heimlich trinkt.

Philip findet es unfair, dass Menschen, die im Rollstuhl sitzen, dieselbe Bezeichnung erhalten wie einfach nur idiotische, weil sein Vater sitzt im Rollstuhl und den findet er voll okay. Er will an einer Demo teilnehmen und findet seine zweite Socke aber nicht.

Der 25. Jackpot der Nürnbergischen Sparkassengesellschaft wurde von der alleinerziehenden Mutter Thea geknackt, die das Geld einer Hungernotorganisation in der Schweiz stiftete, wovon 300 Stühle sowie 50.000 Mahlzeiten und 459 Zukünfte gesichert werden konnten. Eigentlich wollte sie nur die CD haben, die man als Prämie erhielt.

Frank ist ein kleiner einäugiger Teddybär im Kinderzimmer von Annah Stein. Er wird oft geschlagen oder gegen die Wand geworfen und traut sich nicht zu weinen, schreit aber schon manchmal in der Lautstärke des Flüsterns und wedelt dann ganz leicht mit den Ohren, um ihren Schmerz abzuwerfen.

Monika Sabrina Feder macht eine halbe Weltreise, studiert Theaterpädagogik, heiratet einen gutaussehenden Geschäftsmann, betrügt ihn, verlässt ihn, erbt ein Haus, streicht seine Fensterläden rot, verliert seinen Schlüssel, kauft sich ein Cabrio, wechselt die Sommerreifen zur falschen Zeit, macht eine Hochzeitsreise ohne Ehemann, sucht ihre Mutter, verbrennt sich am Kaffee, lebt für zwei Tage unter einer Brücke, bekommt einen Kinogutschein geschenkt, wird Googles Chefin, schaut sich Gossip Girl an und bringt sich um, in ihrem Abschiedsbrief sind drei Rechtschreibfehler.

LEBENSLÄUFE

von Rosa Engelhardt

Die Katze hat früher in Amerika gelebt. Deshalb wundert sie sich jetzt, wenn sie aus dem Fenster schaut. Dann sieht sie hinab auf die Deutschen, die zwei Stockwerke unter ihr über den Bürgersteig gehen. Da ist ein Mann, der auf die Entfernung seinem Hund ähnlich sieht. Ein Vater mit Zwillingskinderwagen. Ein großes Mädchen auf einem kleinen Fahrrad. Die Katze findet die Straßen grauer als in Amerika. Und obwohl sie auch in ihrem alten Heim nie vor die Tür gelassen wurde, weiß sie, dass man hier das Meer nicht riechen kann.

Die Zähne müssen jetzt einen Bogen beschreiben, sonst knabbern sie die zarte Oberflächenmembran des Zeigefingers an. Die Zunge fühlt die Kuppe, die nach Orange schmeckt, obwohl sie gerade eine Mandarine geschält hat. Der Kiefer muss sich ein Stück bewegen, um den Nagelrest abzureißen, denn der leistet heftigen Widerstand. Eigentlich soll man nicht daran knabbern, aber die Nerven vermitteln dem Körper Nervösität.

Die Frau wünscht sich, sie hätte nicht wieder mit Gitarre spielen angefangen. Denn jetzt hatte sie Hornhaut an den Fingern und der Bildschirm reagierte nicht auf ihr Tippen. Sie stand in der Bahn mit dem Handy in der Hand und hoffte, dass niemand sie beobachtete.

In Moab, Juta, nah dem Arches Nationalpark gibt es am Stadtrand das Lazy Lizard Hotel, das eigentlich ein Hostel ist. Auf dem Gelände des Hostels gibt eine Handvoll Campingplätzen und Blockhütten. Außerdem ein Gemeinschaftshaus und ein paar Duschen. Im Gemeinschaftsraum des Gemeinschaftshauses sitzen jeden Abend die Tramper und tauschen sich aus. Einige haben großflächige Karten dabei, auf den sie alle Orte einzeichnen, die sie schon bereisten. Ihr Wege bilden Netze in der Welt. Andere schreiben winzige Wörter in systematisch zerfledderten Reisetagebüchern. An einem Tisch spielt man ein unbekanntes Kartenspiel. Neben dem geräuberten Bücherregal geht es zur gemeinsamen Küche. Dort kocht jeden Abend ein Mann mit Namen Denali. Von seinen Gerichten munkelt man noch bis Arizona. Meine Eltern haben Denali schon zu Gesicht bekommen, ich noch nicht. Er hat wohl einen langen weißen Bart.

Louise fand mit 16 einen alten Zettel in ihrem Zimmer, den sie wohl mit sechs geschrieben hatte, sich aber nicht mehr daran erinnern konnte. Unter ihrem beigen Minisofa verbarg sich seit jeher eine vierte Dimension, für auf ewig verschollene Kuscheltiere, die intelligente Knete ihres kleinen Bruders, den Deutschaufsatz aus der fünften Klasse, eine Batterie leerer Red Bull Dosen. Der Zettel hatte zerknüllt neben Pampi, dem alten Schweinchen mit den abgekauten Hasenohren, gelegen. In welliger Erstklässler Schrift waren dort folgende Worte notiert: Der Vulkan möchte manchmal gerne lieber jemand anderes sein.

Berliner Straßenbahn am Nachmittag. Zwei Männer mit Jogginghosen. Der Eine: „Ich weiß, dass ich recht habe.“ Der Andere: „Nee, du hast kein recht.“

In den Tiefen des Ozonlochs sitzt ein Gott und lacht sich scheckig bis der Himmel gefleckt ist. Der Gott ergötzt sich an den Menschen, die auf der Erde leben. Sein Limonadenglas, das er auf den Knien steht, hat ein Strohhalm und manchmal muss er so lachen, dass ein paar Tropfen seines Getränkes überschwappen und es in manchen Regionen der Erde regnet. Neben ihm steht ein rotblinkender Anrufbeantworter, den er nie abhört. Denn auf 16,573 Milliarden Nachrichten hatte er einfach kein Bock.

Wandgesellschaft

Von Lisa Bresch

Ihm war klar, dass sie ihn kriegen würden, aber er hatte auch keine große Lust gehabt sich zu verstecken. Vielleicht wäre er dann jetzt nicht hier. Früher, „nein,es ist erst ein paar Monate her!“ sagte er sich, hatte er immer eine Lederjacke getragen. Jetzt war sie durch ein schwarz- weißes Baumwollhemd ausgetauscht worden. Er vermisste das kühle Gefühl des Leders auf seiner Haut.

Nebenan hörte er einen Mann auf und ab gehen. Seine Verzweiflung war hörbar, denn seine Schritte waren kein klack-klack-klack mehr sondern schneller, unregelmäßiger. Ab und zu ertönte auch sein leises Murmeln  herüber.  Vielleicht versuchte er, sich selbst einzureden, unschuldig zu sein.

Aus der Nachbarzelle hörte er eine Frau weinen. Ab und zu erhob sie ihre Stimme und schrie die Wände an. „Ihr seid meine einzigen Freunde! Meine einzigen!“ Oft schon war er nachts aufgewacht, weil sie so laut geschluchzt hatte, manchmal auch, weil sie den Wänden erzählte wie tolerant sie denn seien, da es sie nicht störte, dass sie Tag und Nacht angestarrt wurden. Er glaubte, dass sie langsam verrückt wurde, oder er war es und sie ganz normal. Er war sich bei vielem nicht mehr sicher.

Letztens hatte er die Putzfrau bei einem Telefonat belauscht, vermutlich durfte sie so etwas   während ihrer Arbeitszeit nicht, aber es schien wichtig zu sein. „Ich habe nichts verbrochen, ich putze hier nur!“ hatte sie gesagt und dann, dass es ihren Kindern an nichts fehlte und sie ja Geld verdiente. Die Frau hatte ihm leid getan, aber er hoffte, dass sie ihn nicht für böse hielt. Seit einigen Tagen war sie nun schon nicht da gewesen, er überlegte, ob sie vielleicht gekündigt haben könnte.

Dann wäre sie den sterilen, weißen Flur entlang geschritten, dann um die Ecke an einem Bild des ersten  Gefängnisdirektors vorbei und hätte die zweite Tür links genommen, geklopft, auf ein „Herein!“ gewartet und wäre leise hinein gegangen. Vielleicht hätte ihr Chef am Schreibtisch gesessen, wie an dem Tag an dem er inhaftiert wurde und aus Papier kleine Kugeln geformt und geworfen und manchmal getroffen und sich darüber gefreut, während er sich anhörte,was sie zu sagen hatte. Er wusste nicht, wie der Direktor reagiert haben könnte. Vielleicht lebte er in seiner eigenen Welt, sodass es ihn kaum gestört hätte. Vermutlich hatte sie auch nur Urlaub.

Morgen sollte sein Anwalt kommen, er mochte ihn, weil dieser ihn verstand. Auch der Anwalt war einmal in seiner Situation gewesen, deshalb wusste er, wie es ihm ging.  Er musste noch sehr lange hierbleiben, hatte er gesagt; doch auch wenn es eine Strafe war, war es auch eine Möglichkeit über sein Leben nachzudenken und dazu brauchte er nun einmal viel Zeit.

Denn für einen Ort wie diesen gab es keinen Tag der offenen Tür oder das alltägliche rein – und raus spazieren, wie es einem beliebte. Es gab nur einen Einlass mit Einladung und er hoffte, dass er eines Tages wieder ausgeladen werden würde.

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