Groß-Pinnow, Trebnitz, Lenzen, Gollwitz, Falkensee und jetzt: Neuhausen an der Spree. Die Sommmerliteraturwoche versammelt 35 junge Autor*innen, um gemeinsam zu schreiben, zu diskutieren und sich mit den großen Wirren der globalen Erderwärmung auseinanderzusetzen. Ein offenes Protokoll der Woche.
– Von Tobias Donald Westphal (14)

Samstag, 27.07.2019
Ein neue Sommerliteraturwoche ist gestartet. Und eigentlich ist alles wie immer. Ein paar Seminarleiter*innen, um die 35 großartige Teilnehmer*innen, unzählige verrückte Ideen, Räume mit unmöglichen Namen… Doch halt! Bei Ankunft läuft es einigen eiskalt über den Rücken. Vor den Zimmern prangen Schilder mit majestätischen Namen – oder auch nur Zeichnungen. Und tatsächlich, keine Nummern, keine Buchstaben, keine Ordnung. Hier treibt das Haus wahrlich ein Spielchen mit uns. Der eine oder andere rätselt dann doch etwas länger.

Als dann alles ausgepackt ist, haben sich die Gemüter wieder besänftigt, so folgen Kennlernspiele – auf kuriose Weise, in allerlei Hinsicht: Wer hat versehentlich schon einmal etwas angezündet? Wer fühlt sich zu wie viel Prozent wie ein bestimmtes Tier? Doch auch nach dem Schreck des Morgens, ließ man es sich nicht nehmen, die Räumlichkeiten des Hauses einzuweihen. In den Namen spiegelt sich dieses Jahr deutlicher denn je das Wochenthema wieder:
Der Point of Return, das 2°-Ziel, Die letzten Tage des Patriarchats, das Kohlekraftwerk, die Off-Shore-Anlage, der Hambi, die Mülldeponie, das Amphibientheater,…
Derweil munkelt man in Neuhausen weiter – was hat er zu bedeuten, dieser komische Besuch? Was wird er hier treiben? Vieles haben die Seminarleiter*innen vorbereitet – insgesamt über 30 Workshops über die Woche verteilt. Warum? Nun ja, Klimaschutz sollte man den Profis überlassen.
Sonntag, 28.07.2019
Wir befinden uns in einer Verschiebung der Zustände: Klimakatastrophen verändern die Welt von Übermorgen. Treibhausgase, Meeresverschmutzung, Überflutungen, Hitzeperioden, Waldbrände, Artensterben und mehr bedrohen unsere und die Zukunft allen Lebens auf dem Planeten. Der Wandel wird spürbar, die anhaltende Hitze zeigt diesen Sommer bereits das Ausmaß der globalen Verschiebung klimatischer Zustände.
Im Zeitalter des Anthropozäns hat der Mensch den größten Einfluss auf geologischen, biologischen und klimatischen Prozesse der Erde. Um die Zukunft des Planeten zu sichern, müssen wir nun handeln. Eine Gruppe Unerschrockener traut sich an die Welt der Anthropozändichtung heran. Zur gleicher Zeit gründet sich ein Dokumentationsteam, das sich mit den Möglichkeiten des Festhaltens auseinandersetzt – mit filmischen Mitteln. Die Gruppe entscheidet sich, gemeinsam über die kommenden Tage kollaborativ Filmmaterial zu sammeln – was können wir festhalten, was bleibt von uns, wenn die Welt untergegangen ist? Die Filmmontage wird auf der Werkschau am 03.08. gezeigt werden.

In den Zeiten einer drohende Katastrophe sind Bewegungen erforderlich, die sich an die Öffentlichkeit wenden und diese über die Problematik und Lösungsansätze aufklären. Jeden Freitag in der Abendschau wird eine Vielzahl von eindrucksvollen Plakaten der Fridays for Future gezeigt, die Aufmerksamkeit auf die Thematik lenken sollen. Diese essentielle Komponente der politischen Öffentlichkeitsarbeit schauten sich die Teilnehmer*innen des Workshops Protestpoesie genauer an:

Es ist ein kleiner Schritt für unsere Bienen, aber ein großer für die Menschheit!
Einer der Slogans, die im Workshop Protestpoesie entstanden ist. Ein Artensterben der Bienen würde eine devastierende Kettenreaktion in unserem Ökosystem auslösen.
Alle Naturliebhaber kommen hingegen etwas später auf ihre Kosten, als sich ein Workshop der Lyrik von Marion Poschmann über die Natürlichkeit/Künstlichkeit der Parks der Welt nähert. Nach ihrem Vorbild schreibt die Gruppe eigene Gedichte.
Das Theater ist der Ort, wo Wirklichkeit und Fiktion aufeinandertreffen, und es ist also der Ort, wo beides seine Fassung verliert in einer heiligen Kollision.
Wolfram Lotz zum unmöglichen Theater
Der Sonntag klang gemütlich mit einem Vorleseabend aus. Die Seminarleiter*innen lasen an verschiedenen Standorten aus lyrischen Sammelwerken und Romanen. Besonders beliebt unter den Teilnehmenden war der Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ von Jonathan Safran Foer und die dramatischen Werke Wolfram Lotz‘.

Montag, 29.07.2019
Am Montagmorgen erkundeten die Workshopteilnehmer*innen von „futur drei“ mit Tim Holland zusammen, welche Gestaltungs- und Handlungsräume durch SciFi ergriffen werden können und wagten sich darauf selbst an die Schreibblöcke.
Jeder kennt die Momente, in denen man sich so auf sein Buch konzentriert, dass man alles um einen herum vergisst: Immersion. Wie kann man sich das in schriftlichen Werken zu Nutze machen? Die Gruppe der künstlerischen Installation Kranchy experimentierte viel, um zu erfahren, mit welchem Methoden sie die Besucher*innen des Kunstwerks in ihren Bann ziehen können.

In „Texte zu Tanz“ stellten sich die Teilnehmer der Herausforderung, Geschichten tanzend darzustellen.
Nachmittags fand ein Talk mit dem Lyriker Tim Holland statt. Er veröffentlichte das erste Mal in der Literaturzeitschrift Trash Pool und gab seine Erfahrung an die Teilnehmer*innen des Spezis weiter. Zugleich war dieser Talk eine Plattform des Austauschs untereinander.

Alle Musikliebhaber hingegen probierten in „Musik und Literatur“ aus, wie Musik als Inspiration dienen kann und wie diese ein Bestandteil eigener Texte werden kann. Beide Verfahren wurden erfolgreich erprobt.
Viele Autor*innen aus dem Theater- und Performancebereich wie Jodorowsky („La Danca de la Realidad“, „Poesía Sin Fin“,…) und Caballero („Finisterrae“, „La Distancia“,…) erschaffen leuchtende Filmbilder durch ihre surrealistischen Werke. Doch was darf Kunst eigentlich? Und ist sie von den Künstler*innen zu trennen oder nicht? Diese und weitere Fragen wurden in einem Workshop am Abend thematisch geklärt.
Außerdem fanden Übungen im Improtheater statt: wir konnten heute eine neue Seminarleiterin, Anna S., im Spezi begrüßen, die mit Improübungen zum Thema „Erderwärmung“ gleich durchstartete. Auch wenn es ursprünglich bei einer Nachrichtensendung bleiben sollte, zeigte die Gruppe viel Kreativität und entwickelte ebenso Comedyshows, Wahlwerbung, Diskussionsrunden, Dauerwerbesendungen und vieles mehr. Die Ergebnisse waren beeindruckend.

Zum Abschluss des Tages war heute ein offenes Programm dran. Wie auch tagsüber schon boten Teilnehmer*innen verschiedene Aktivitäten an, denen sich dann alle frei anschließen konnten. Während ein paar Schreibspiele ausprobierten und andere collagierten, war eine Gruppe so vom Darstellenden Spiel angetan, dass sie alleine gleich weitermachten und sich gegenseitig Eigenschaften nannten, die sie dann zum Ausdruck bringen mussten.
Dienstag, 30. Juli 2019
Fast jeder Ort unserer Welt ist vermessen, fast jede größere Stadt in Reiseführern umworben. Doch kann man dieses Medium nicht auch anders einsetzen? Ob humorvolles Reise-ABC, Reiseführer für Öffentliche Toiletten oder selbst ausgedachte Orte, die Teilnehmer*innen dieses Workshops lernten diese Methode kennen und lieben. Sie kann etwa eingesetzt werden, um sich einen besseren Eindruck von dem Ort des Geschehens von Texten, an denen man gerade arbeitet, zu vermitteln.
Seit Jahren erlangen Frauen mehr Rechte – auch wenn die Emanzipation noch lange nicht abgeschlossen ist. Doch wieso herrscht in der Literatur immer noch ein sehr binäres Denken? In „feeling the meaning(lessness)“ setzte sich die Gruppe mit diesem Thema auseinander. Ausgehend von der Écriture féminine der 70er-Jahre in Frankreich (Cixous, Irigaray, Kristeva, Wittig,…) erarbeiteten sie Methoden, um den Lesern Charaktere näher zu bringen, ohne dessen Körper näher zu beschreiben. Sie diskutierten, warum diese Methoden in der Literatur bisher kaum Anwendung finden und ob wir dieses binäre Geschlechterdenken nicht sprengen sollten.
In „heute:morgen“ versetzten sich alle Teilnehmer*innen in die Welt der Zukunft: Wie wird diese auf die Welt von heute zurückdenken? Welche Themen werden für sie beim Zurückdenken an unser heutiges Zeitalter im Vordergrund stehen? Der Anfang vom Ende, Klimaaktivismus, Zeit des Fortschritts, eine Smartphone-Gesellschaft? Wie kann man dies textlich darstellen?
Tim Hilland bezeichnete bei seinem Besuch Schreibschulen als Gütesiegel für Autor*innen und weckte so noch weiteres Interesse für diese Form der Ausbildung. Im „Schreibschulen Talk“ wurden alle offenen Fragen zu diesem Thema von Lukas geklärt, der selbst gerade an einer Schreibschule in Hildesheim studiert.
Das Projekt „Welcome to Night Vale“ legt beeindruckend dar, welchen Erfolg surreale Texte erzielen können. Nachdem die Produzent*innen die Geschichte zunächst auf einzelne Episoden aufgeteilt über einen Podcast verteilten, erzielten sie so einen Erfolg, dass das Werk nur kurz später auch als Buch erschien. Alle Leser*innen waren angetan, von den Menschen die ihre Gestalt wechseln, von den Fernsehern, durch die das Fernsehteam die Zuschauer*innen sieht und aktiv anspricht, von dem Pfandhaus, indem alles den selben Preis hat. Die Teilnehmer*innen des Seminars erprobten sich selbst daran und entwarfen eine surreale Welt. Neben einem redenden Glas voll Dreck, dass vom Untergang der Titanic berichtet, laufenden Laternen, die man besticht, damit sie Licht spenden, Pflanzen die Champagner für die Fotosynthese brauchen und einer Kuh als Präsidenten, lauern noch viele weitere surreale Geschöpfe in dieser Stadt. Eine Stadtkarte und weitere Texte dazu folgen.

Im letzten Slot für diesen Tag wurden unter anderem die Voraussetzungen, Chancen und Ausbildungskomponenten von Bibliothekar*innen erläutert. Die Teilnehmer*innen lernten den Alltag dieser Berufsgruppe kennen und waren zum Teil sichtlich beeindruckt, welche Aktivitäten und Angebote manche Bibliotheken abseits von Büchern noch haben.
In „Trash the Classics!“ hingegen ließ eine Gruppe ihre Wut an alten Schmökern aus dem Schulunterricht aus. Aus Goethe, Schiller und Fontane wurden neue, geschickt collagierte Notizbücher und Zusammenschnitte.
Eine weitere Gruppe übte Improvisation im Darstellenden Spiel. Ein Teilnehmer, der selbst das Handwerk des Theaters akademisch erlernt, gab sein Wissen weiter. Nach der CROW-Methode (Character, Relation, Object, Where) schrieben alle Teilnehmer*innen Eigenschaften einer Rolle auf einen Zettel. Im Anschluss wurde gelost und jeder spielte Texte von Lausund („Bandscheibenvorfall“), Aristophanes („Lysistrata“) und Tschechov („Die Möwe“) als die gezogene Rolle. Alle waren sehr beeindruckt, wie wenig ein Theaterstück eigentlich vom Text lebt und wie viel Differenzen im Verständnis des Textes es geben kann, je nachdem, in welche Rolle man sich versetzt. Einige Beispiele waren das Schwimmen im Kaffee, das Sprechen eines Mörders zu seinem Opfer oder zum eigenen Haustier.
Abends ließen wir den Tag mit weiteren Übungen zum Darstellenden Spiel in der großen Gruppe ausklingen. Wir beworben kuriose Produkte aller Art, führten pantomimische Übungen aus und vieles mehr.
Mittwoch, 31. Juli 2019
Auch früh morgens am Mittwoch begannen eine Vielzahl der Teilnehmer*innen mit dem Darstellenden Spiel und führten weitere Improvisationsübungen durch. Dabei wurden Problemkarten gezogen und drei Teilnehmer*innen mussten jeweils eine besonders gute, eine schlechte und eine furchtbare Lösung des Publikums pantomimisch darstellen.
In „Arbeit & Struktur“ schaute sich an, unter welchen Bedingungen sie eigentlich schreiben. Anschließend diskutierten sie Anwendbarkeit verschiedener Strategien zum regelmäßigen Schreiben auf den eigenen Alltag.
Das Assemblage-Team gab dem Begriff „Upcycling“ eine ganz neue Dimension. Sie brachten Abfall mit und sammelten in der Gegend welchen, um ihn anschließend zu etwas Neuem aufzuwerten. Dabei zeigten sie auf jeden Fall Kreativität.

Nachmittags beschäftigten sich viele Teilnehmer*innen mit der Figur des Protagonisten/der Protagonistin. Was macht gute Protagonist*innen aus? Wie kann man das umsetzen? Kann man Protagonist*innen charakterisieren ohne sie selbst sprechen zu lassen? Inspiriert nach Ausschnitten von Cortázar und Bolaño fanden so einige mit den Tipps dieses Workshops eine Hauptfigur für ihren Lesungstext.
Währenddessen versuchte eine andere Gruppe, verschiedene Methoden, mit denen man in den Schreibflow kommen soll. Sie legten sich hin und ließen sich für ihre Geschichten ohne viel Nachdenken von dem treiben, was ihnen in den Sinn kam.
Später schaute sich eine Gruppe an, wie sie alte und neue Texte zielorientiert überarbeiten können. Sie sprachen über ihre Erfahrungen und Probleme und sammelten Ideen für zukünftige Überarbeitungen.
Andere Teilnehmer*innen tanzten derweil etwas, um den Kopf frei zu kriegen. Zum Teil entstanden dabei sogar einige Geschichten – getanzt und geschrieben.
Abends versammelten wir uns zur „Open Stage“, einer Veranstaltung, auf der alle Teilnehmer*innen Texte, Theaterstücke, Filme, Tanzmoves und alles andere zeigen können, was sie gerne mal zeigen würden. Zunächst begann die Vorstellung im immersive Raum, der in einem Workshop entstandt: Der Raum war symmetrisch und einheitlich dekoriert, Kissen auf dem Boden galten der Entspannung und dem Zuschauen auf das Pendel in der Mitte. Dabei hörten die Zuschauer*innen der Geräuschkulisse zu: selbstkreierter immersive Musik und gelesenen Texten, die im Stimmenwirrwarr endeten.

Der Abend reichte von einem Wahrsage-ABC, dem Fresstheater, einem selbstgedrehten Musikvideo und einer Tanzshow bis hin zu alten Filmen aus dem Spezi und dem Trailer für eine Dokumentation über die vergangenen Literaturwochen und die Gesamtentwicklung.

Klingt superspannend – freue mich auf die Fortsetzung – und weitere literarisch ökologische Erkenntnisse 😊
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Nachher geht es weiter mit den Highlight des heutigen Tages 🙂
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Schöne Zusammenfassung und sehr spannend, was ihr da alles macht. Freue mich auf mehr!
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Jeden Tag folgen weitere Details. Viel Spaß 🙂
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